Hunderttausende pilgern jährlich nach Santiago de Compostella, um sich selbst zu finden. Im Oldenburger Landes gibt es einen Ort, der das auch möglich macht.
Der Regenbogen über der A1 verheißt Gutes an diesem Mittwoch um 8.00 Uhr in der Frühe. Lässt hinter dem Lenkrad Verheißungsvolles ahnen bei der Fahrt in Richtung Wangerooge. Verschweigt aber, dass es gleich wolkenbruchartig schüttet. Dass die Regentropfen sich auf der Windschutzscheibe ausbreiten, als wären sie Schneeflocken gewesen.
Und doch ist es eine entspannte Fahrt auf der A29 vorbei an Oldenburg, an Rastede. Auf der man irgendwann tatsächlich am Vormittag schon die zu sehen glaubt, die am Nachmittag zum Kaffee kommen. So flach ist es hier.
Eine Reise, die für den Süddeutschen irgendwann zum Sprachkurs wird. ‚Middoge‘ heißt es da auf den Ortsschildern, ‚Altgarmssiel‘ oder ‚Charlottengroden‘.
‚Harlesiel‘, Start der Fähre zur Insel Wangerooge, klingt da fast schon wie ‚Mülller‘ oder ‚Schmidt‘ bei den Namen. Harlesiel, dort, wo, wenn man es erreicht hat, man innerlich schon ruhiger geworden ist. Wo in diesen November-Tagen das Aufgeben des Koffers eine Minute dauert und der Bahnbeamte am Schalter sich freut, dass er Kundschaft hat.
"Fährt die Fähre heute langsamer als sonst"? fragt der getriebene Journalist die Kioskbetreiberin auf der MS Wangerooge. "Nein, das ist normal", sagt sie nüchtern und hat finanziell auch schon bessere Tage gesehen: Nur die Hälfte der gut 30 Fahrgäste kauft sich einen Kaffee. Die zwei Lutscher für die beiden einzigen Kinder heute noch nicht dazu gerechnet.
50 Minuten dauert die Überfahrt wie im Prospekt versprochen. Danach betreten die Insulanerin mit dem Kurzhaarschnitt, die drei Männer im T-Shirt unter der Jacke und die anderen 25 Fahrgäste wangeroogischen Boden.
Wer glaubt, sein "Eine Mail pro Minute"-Tempo fortsetzen zu können, täuscht sich. Der Zug vom Bahnhof zum Zentrum der Insel mit ihren 1300 Einwohnern steht zwar schon vor der Ankunft der Fähre da. Alle Türen offen. Alle Fahrgäste eingestiegen. Aber bleibt stehen. Warum weiß keiner. Sich beschweren? Scheint aussichtslos wie ein Kropf.
40 weitere Minuten wird es dauern, bis die Inselbahn die Gäste ins Zentrum der autofreien Insel gebracht hat. Warum es so lange dauert? Zugegeben, die Antwort steht auf einem Holzschuppen: "Gott hat die Zeit erschaffen. Von Eile hat er nichts gesagt."
Wer zur Ruhe kommen will, dem hilft eine Insel dabei. Und wer nicht Gast 125 im Bed-and-breakfast-Hotel sein will, den lädt auf der östlichsten der ostfriesischen Inseln ein Ort zur Reise zu sich selbst ein: das ‚Haus Meeresstern‘.
Vor einigen Monaten kurz vor einer Schließung stehend, wird es auf alle Fälle bis Ende 2018 weitergehen, freuen sich die Hausleiterinnen Sandra Weller und Christine Vincent. Und auch für danach werde intensiv an einer Fortführung gearbeitet. Warum? Weil Haus Meeresstern etwas Mystisches hat, sagen sie. Weil viele der Gäste, die zum Teil schon 30 Jahre zu Ihnen kämen regelrecht verzweifelt wären, würde der Schlüssel irgendwann das letzte Mal rumgedreht.
Das Geheimnis des Hauses am Nordufer der Insel: Ein mystisches Dreieck aus dem ‚Haus Meeresstern‘, dem Strand und der Kirche, vermuten Weller und Vincent. Und meinen die katholische Kirche St. Willehad, in die man quasi mit den Hausschuhen gehen kann, weil sie gerade mal auf der anderen Straßenseite liegt. Bei Kirche denken die beiden auch an den Pfarrer und ausgebildeten ‚Geistlichen Begleiter‘ Egbert Schlotmann. Man müsse nicht religiös sein, um zu einem Gespräch zu ihm zu kommen, beschreibt der großgewachsene 52-Jährige das Angebot seiner offenen Türe.
Der Strand als zweites Bein des anziehenden Ortes liegt gerade mal 100 Meter vom 1908 gegründeten ‚Meeresstern‘ entfernt. Und wer Glück hat, kann eines der 81 Zimmer erheischen, die einen Blick auf die Nordsee bieten.
"Das Meer gibt Kraft, aber es zieht auch Kraft", weiß die 70-Jährige Edelgard Wegner. Insulanerin sei sie nicht, rückt sie zurecht, denn sie lebe erst seit 50 Jahren auf dem Eiland mit seinen rund 1.300 Einwohnern. "Echter Insulaner ist schließlich nur jemand, der auch hier geboren ist", beschreibt Wegner, die sich fast dafür entschuldigt, nicht katholisch zu sein. Und die dennoch fünf Mal pro Woche das Lädchen im Exerzitien- und Begegnungshaus betreibt. Unentgeltlich.
Weil es für sie, selbst Vermieterin auf der Insel, das "einzig schöne Haus" des Eilandes sei. Ein Ende, gar ein Abriss des ‚Meeressterns‘, wie die Einrichtung des Vechtaer St. Willehad-Vereins am nördlichsten Punkt des Bistums Münster auch genannt wird, "wäre der Todesstoß für die Insel", ist die Nordhorn in der Grafschaft Bentheim Geborene überzeugt.
Ihre Sorge: Dass auf dem 7.000 Quadratmeter großen Gelände Eigentumswohnungen entstehen könnten und das Missverhältnis von Einheimischen und Urlaubsgästen weiter ins Ungleichgewicht kommen würde. Die Rentnerin, die sehr wohl schätzt, dass Gäste eine Bereicherung für die Insel sind, deren Bevölkerung im Krieg zu einem Drittel umgekommen sei. Die Künstlerin, für die das Meer die große Kapelle ist - neben dem im Haus vorhandenen 20 Quadratmeter großen Andachtsraum mit Allerheiligstem.
Ein spiritueller Grundwasserspiegel, den die 5.000 Gäste bei ihren 20.000 Übernachtungen pro Jahr sehr wohl schätzen. Der religiöse Künstler aus dem Rheinland etwa, der im Meeresstern zwei Wochen ausspannt, weil er im Alltag immer auf seine an fortgeschrittenem Parkinson erkrankte Frau achten muss. Der jede Minute horcht, ob sie nicht doch gestürzt ist. Der sie jetzt gut betreut in einer Kurzzeitpflege weiß und es genießt, auf Wangerooge einfach mal spazieren gehen und schlafen zu können. Für 65 Euro am Tag inklusive Vollverpflegung auch bei schmalerem Geldbeutel machbar.
Der niedrige Preis alleine kann es nicht sein, der überwiegend Frauen zum großen Teil aus Nordrhein-Westfalen, aber auch aus Mainz und Würzburg hierher lockt. Auch der Hochglanz-High-End-Hotel-Zustand nicht. Den sucht eine Familie mit zwei kleinen Kindern, die dann rund 150 Euro pro Nacht zahlen würde, vergeblich, weil es ihn nicht gibt. Warum tauschen dann trotzdem viele Wangerooge gegen Santiago?
Trotz des 70er-Jahre-Scharms. Trotz knarzender Treppen. Trotz nicht-vorhandenem Fernseher. "Schon auf der Fähre bekommt man Abstand vom Alltag", glaubt der Münsteraner Matthäus Niesmann, als Priester mit Gruppen knapp 20 Jahre Gast im Hause. Und die offene Bürotür muss es sein, welche die Leiterinnen Weller und Vincent den ganzen Tag haben. Die wie Herbergseltern den Fön ausleihen, wissen, wann die Fähre geht und die die Lebensgeschichten ihrer Gäste kennen.
Es muss das sein, dass sie sich sehr wohl überlegen, wer zu wem am Tisch passt. Die ihnen ein Namensschild schreiben. Die Tatsache, dass es hier keine angetrunkenen Kegelclubs gibt.
Etwas von dem, was die ‚Schwestern Unserer Lieben Frau‘, die früheren Träger des Anwesens, über viele Jahrzehnte geleistet haben, "ist in diesem Haus noch anwesend", glaubt Edelgard Wegner.
Eine Überzeugung, die auch die Insulaner hatten: "Dieses Haus hat was Heiles", habe ihre Oma immer gesagt, erinnert sich Leiterin Sandra Weller. Bis in die 80er Jahre habe es eine Krankenstation gegeben, in der viele Insulaner zur Welt gekommen seien. "Da kannst Du hingehen, die helfen Dir", sei der Ruf des Hauses gewesen. Wangerooge statt Santiago. Bis Ende 2018 auf alle Fälle.
Dietmar Kattinger, 14.11.2016