Oldenburger Münsterland / Landkreis Diepholz.
Das Wort ‚Martyrium‘
fällt nicht. Aber es hört sich oft danach an. Dann, wenn die drei Männer und
zwei Frauen von ihrem Leidensweg erzählen. Silvia* etwa. „Selbst meine
Geschwister verstehen mein Problem nicht“, sagt die gut 30-Jährige.
30
Kilometer von Vechta entfernt lebend ist sie froh, den Schritt in die
Vechtaer
Selbsthilfegruppe für Stotternde geschafft zu
haben. „Was Stottern bedeutet, können andere nicht nachvollziehen“, sagt sie. Hier
bei den insgesamt sieben Mitgliedern hingegen fühlt sich verstanden.
Stottern
drängte Silvia in den Rückzug. „Wenn Du merkst, dass Deine Freundinnen am
Samstagabend oder bei einem Hochzeitsfest locker plaudern, ziehst Du Dich immer
mehr zurück.“ Früher wollte die ernst wirkende Pädagogin ihr Stottern
verstecken: „Ein Stressfaktor.“ Dabei kommen die Unterbrechungen in ihren
Sätzen selten vor. Und doch können sie – wie bei allen anderen im Raum auch – plötzlich
wie aus dem Nichts auftauchen.
Auch
Sätze wie „Du brauchst nicht mehr nervös werden“ an ihrem Arbeitsplatz würden ihr
dann nicht helfen.
Stress
scheint das Leid hingegen zu verstärken. „Ich will lernen, meinem Chef bei der
Arbeit besser in die Augen schauen zu können“, ist bei einer Leseübung an den
buchefarbenen
Holztischen im noch kühlen Raum als ein Ziel
der
Vechtaer
Selbsthilfegruppe zu hören. Und obwohl
es nur eine kleine Runde von Vertrauten ist, sagt Heinrich* vorher - offensichtlich
um Zeit zu gewinnen - „Wo waren wir gleich noch mal?“ nachdem er das DIN-A-4-Blatt
fahrig in seine Hände genommen hat.
Überhaupt
seien Stotternde sehr trickreich, ist von den Gruppenmitgliedern aus den
Landkreisen Cloppenburg, Diepholz und Vechta zu hören. Wolle man im Geschäft einen
Otto-Katalog, könne das Wort ‚Otto‘ aber nicht aussprechen, dann verlange
mancher Stotternde bewusst einen Neckermann-Katalog. „Den haben wir leider
nicht“, darauf der Verkäufer. „Wir haben nur den Otto-Katalog.“ „Dann nehme ich
den“, schießt es aus dem Stotternden heraus, glücklich das schwere Wort ‚Otto‘
nicht ausgesprochen haben zu müssen.
Vermeidungsstrategien,
die kurzfristig helfen, über welche die Sprachbehinderten selbst aber nicht
glücklich sind. „Manchmal fahre ich 10, 20 oder sogar 30 Kilometer, um auch nur
ein einziges Telefonat zu vermeiden“, gesteht Elisabeth. Wissend, was das an
Geld und Zeit für sie bedeutet. Nickend bestätigen andere wie gut sie das
kennen.
Ihr Stottern
hingegen ist unterschiedlich. Während mancher in der Runde Füllwörter wie „Tja,
ähm, ja“ fünfmal wiederholt, ist für die andere das Ringen um Silben mit
gesichtsverzerrender Mimik verbunden. Elisabeths Körper wiederum bleibt völlig
ruhig, wenn sie stotternd spricht. Ihr Kopf ruht still. „Bevor ich spreche,
überlege ich, ob ich den Buchstaben herausbekomme“, schildert sie ihr
Fiasko.Das
Schlimmste für alle im Raum: Anrufbeantworter.
Darauf zu sprechen „geht gar nicht“, sind sich die 30- bis Mitte 50-Jährigen
einig. Froh, darüber, dass die zarte Pflanze ihrer Selbsthilfegruppe gewachsen
ist.
Nach
dem elften Treffen fühlen sie sich als harter Kern, der bleiben wird. Im
Blitzlicht zu Beginn des Treffens herrscht eine vertraute Stimmung. Und neue
Mitglieder sind herzlich willkommen.
Warum
sich die Teilnahme lohnt, berichtet Elisabeth: Als sie eine Überweisung beim
Arzt abholen wollte und am Tresen die Silben ihres Namens nicht über die Zunge
kommen wollten, habe die Arzthelferin gesagt: „Gib mal Deine Karte her. Da
steht ja Dein Name drauf.“ Darauf Elisabeth: „Die kriegen sie nicht eher, bis
sie mich ausreden lassen.“ Da haben die „solche Augen“ bekommen, erzählt
Elisabeth strahlend.
Weitere
Infos zur Gruppe: Karin Bockhorst, Tel. 04441/8707-0 oder Martina Tepe
martina2011.t@hotmail.de
.
*Alle
Namen geändert
Tipps für Nicht-Stotternde:
Lockeren
Blickkontakt halten
Auf den Inhalt des Gesagten achten, nicht auf die Form
Ausreden lassen, Sätze nicht vervollständigen. Das Wort aus dem Mund nehmen
demütigt.
Geduldig sein
Weitere Infos:
- Ein Prozent aller Deutschen stottert
- Stottern ist als Behinderung anerkannt
- Weitere Infos auch unter
www.bvss.de
Dietmar Kattinger
Referent für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Tel. 04441/8707-640