Der Unterschied ist verschwunden. Spätestens jetzt am Ende der Predigt. Als Prälat Kossen Inhaftierten und Nicht-Inhaftierten sagt, "dass die Liebe das Gebot ist, auf das Gott uns verpflichtet." Als er auch den Täterinnen etwas zumutet und zutraut.
Dabei hat der Unterschied selbstverständlich bestanden vor dem Gottesdienst in der Justizvollzugsanstalt für Frauen, der am Sonntag, 26. Oktober, über den Deutschlandfunk und die Deutsche Welle bundesweit in 100.000 Haushalte von Rhauderfehn bis Reichenhall übertragen wird.
Selbstverständlich werden die Gäste gecheckt, müssen mit Personalausweis ihre Identität beglaubigen, werden auf einer Liste abgehakt. Durch Flur, Innenhof und weiteren Flur in der benachbarten Klosterkirche angekommen, sind sie gebeten, sich unter den Inhaftierten zu verteilen.
Die wiederum halten den Blickkontakt mit den Leuten von außen anfangs kaum. Schauen auf den Boden oder krampfhaft ins Liedblatt.
Trotz des Gefühls auf beiden Seiten - Wer ist Gast? Wer ist Inhaftiert? - ist die Anspannung überall gleich groß. Wird die auf die Minute vorgegebene Zeit eingehalten?
Dann das Knacken im Funkgerät des Technikers. 10.00 Uhr, vier Minuten: "Wir sind beim Wetter." 10.05 Uhr: "Verkehr." Pause. "Und Achtung!".
"Die Hoffnung auf einen barmherzigen Gott wachhalten", beschreibt Josefine May gleich zu Beginn ihr Verständnis von Seelsorge hinter den Gittern des Vechtaer Frauenknastes. Und sagt den meisten der 130 Inhaftierten im geschlossenen Vollzug, die zur Eucharistiefeier gekommen sind: "Auch im Gefängnis gibt es einen Gott, der die schweren und leichten Wege mitgeht."
Die Liedstelle "Er allein ist letzter Halt" klingt anders hier in den Räumen, die durch massive Schlösser verriegelt sind. Beim Blick in die Gesichter derer, denen das Leben seine Spuren im Antlitz und im gesamten Körper hinterlassen hat, fallen die Worte der stellvertretenden Leiterin Petra Huckemeyer ein: "Für viele ist der Vollzug ein Schutzraum." Nur wenige Hände ragen in die Höhe bei der Frage, wer später zur Kommunion gehen möchte.
Dann, im beschwingten "Gloria, Ehre sei Dir" fällt er weg, der Unterschied zwischen innen und außen, zwischen inhaftiert und frei. Es wird einfach nur noch Gottesdienst gefeiert.
Ein Empfinden, das Prälat Kossen in seiner Predigt in Worte fasst: "Die Grenze zwischen Gut und Böse ist nicht die Gefängnismauer", sagt er. "Sie verläuft durch jeden Menschen."
Der innere Abstand ist auch weg bei den Fürbitten, als eine schwarzhaarige Inhaftierte mit nicht-norddeutschem Akzent neben Kossen steht und Fürbitten vorträgt. Er ist verschwunden, als alle gebannt den filigranen Tönen des Vocal Ensembles Marienhain beim ‚Ubi Caritas‘ lauschen.
So wie die schwarzhaarige Frau mit Ohrring und glitzernder Haarspange in der Mitte ihres Hinterkopfes inmitten ihrer Bankreihe stehend.
Stolz, fast sehnsuchtsvoll hält sie den Liedzettel in der rechten Hand, mit der linken auf der Bank abgestützt. So als bedauere sie es, von dem Ganzen, von dem hier die Rede ist, früher nichts gehört zu haben. So als wollte sie aufgehen in den Worten "Lamm Gottes, du nimmst hinweg die Sünde der Welt".
Der Unterschied ist gänzlich verschwunden, als, nachdem die rote Lampe ausgeht und Gottesdienst und Übertragung damit offiziell zu Ende sind, und die 100.000 Hörer zwischen Freiburg und Flensburg jetzt vermutlich Volksmusik hören. Verschwunden ist er, als die Anspannung und die Freude, die vorgegebene Zeit von 55 Minuten exakt eingehalten zu haben, sich im kräftigen Applaus Raum verschafft.
Der Unterschied kommt wieder zum Ende des Gottesdienstes. Die Ausgänge unterscheiden sich. Und statt der Möglichkeit eines Knast-Kaffees bekommen die Inhaftierten heute eine Überraschung zum Sonntag. Die Gäste nicht.
Dietmar Kattinger, 27.10.2014