Frau Schweer, Millionen von Kindern sind weltweit auf der Flucht. Das muss doch die Hölle sein für diese Kinder, oder?
In der Tat. Diese Jungen und Mädchen bekommen alles mit: Wie andere Menschen im Wasser versinken; wie sie selbst vom Tod bedroht sind oder Menschen von Hunden verfolgt werden. Sie bekommen mehr mit, als viele Eltern glauben.
Was von all dem ist das Schlimmste?
Das kann von Kind zu Kind unterschiedlich sein: Aber zum Schlimmsten gehört sicher, wenn Bezugspersonen sterben. Oder auch nur die Sorge, dass den Eltern etwas Schlimmes passieren könnte. Oder nicht zu wissen, wo sich Mutter und Vater aufhalten.
…mit welcher Folge?
Entscheidend ist, was Kinder nach ihrer Ankunft zum Beispiel in Deutschland erleben. Fühlen sie sich da dann direkt sicher? Da entscheidet sich: Entwickelt sich aus dem Durchlittenen eine chronische Erkrankung - wir nennen das ‚Trauma-Folgestörung‘ - oder nicht? Bald in Kita oder Schule, in eine eigene Wohnung zu kommen, ist gut. Im großen Lager zu leben, weiter Stress zu spüren, ist schlecht.
Was genau ist das: eine Trauma-Folgestörung?
Wir unterscheiden zwischen dem Erlebnis selbst und möglichen Folgen davon. Das Erlittene kann ich nicht wegradieren. Kommt es aber später zu Depressionen oder das Kind kann sich in der Schule nicht konzentrieren, es lernt kaum Deutsch: Dann ist Letzteres einfach ein Schutzmodus des Köpers. Das nennen wir Trauma-Folgestörung. Sobald etwas an die schlimme Situation erinnert, beamt sich der Körper weg. Er will diesen schlimmen Moment nicht noch einmal erleben.
Körperlich da, geistig weg: Was kann der Lehrer da tun?
Das Kind mit dem Namen ansprechen. Es möglicherweise aus der Situation herausnehmen. Ganz wichtig: Schauen, welches Bedürfnis wirklich hinter dem vermeintlich ‚komischen‘ Verhalten steckt. Die Trauma-Brille aufsetzen. Alle Symptome sind Schutzmechanismen: Das Kind möchte sich vor neuen Gefahren schützen.
Haben Sie ein Beispiel?
Aus dem Erwachsenenbereich: Eine Person kam morgens um 9 Uhr zu spät zum Beratungsgespräch. Der Grund: Sie hat sich erst aus ihrem Haus getraut hat, als die Sonne da war. In der Dunkelheit hatte diese Person zuvor Traumatisches erlebt. Ein auf den ersten Blick komische Verhalten ist aus Sicht der betroffenen Person logisch und sinnvoll.
Kann man denn solche Höllen-Erfahrungen wieder heilen?
Traumata sind Wunden der Seele. Erinnerungen kann man wiegesagt nicht ausradieren. Wir bieten in unserer Arbeit stattdessen Bilder an: Traumata können wie ungeordnete Kleider im Schrank sein. Der kann nach einem unbearbeiteten Trauma aus allen Nähten platzen. Seine Türen lassen sich nicht mehr schließen.
Man kann jetzt aber hergehen und alle Kleidungsstücke herausnehmen, sie falten und ordentlich wieder einsortieren. Später nur dann etwas herausnehmen, wenn man es braucht. Ziel ist, die Kontrolle über diese Erinnerungen wieder zu erlangen.
Was kann Otto-Normalbürger tun, wenn sich ein geflohenes Kind in der Nachbarschaft komisch verhält?
Viele glauben, sie bräuchten ein Psychologie-Studium; bräuchten Strategien oder Methoden für den Umgang mit traumatisierten Kindern. Dabei ist es alleine schon entscheidend, ihnen einen sicheren Ort zu bieten, sie mal mit den eigenen Jungen und Mädchen mit auf den Spielplatz nehmen. Zusammen in den Zoo zu gehen. Das alleine ist schon unglaublich wertvoll. Den schlechten Bildern gute entgegensetzen. Diese vermeintlich einfachen Dinge sind unglaublich wertvoll!
Sandra Schweer leitet die Osnabrücker Niederlassung des "Netzwerkes für traumatisierte Flüchtlingen in Niedersachsen" e.V. An sechs Standorten beschäftigt der Verein 80 Mitarbeitende. An jedem Mittwoch gibt es unter 0541/6689615 eine telefonische Sprechstunde für pädagogische Fachkräfte zum Umgang mit Kindern und Familien nach Fluchterfahrung.
Weitere Infos und Anmeldung zum ‚Fachtag Frühförderung‘ beim Landes-Caritasverband, Sigrid Hausfeld, tel. 04441/8707-0, E-Mail: hausfeld@lcv-oldenburg.de
Interview: Dietmar Kattinger
Pressemitteilung
Die Trauma-Brille aufsetzen
Erschienen am:
13.06.2023
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