Welche Folgen tiefe seelische Leiden für die Kinder von Betroffenen haben, hat am Donnerstag, 7. Mai, Dr. Michael Hipp, Leiter des Sozialpsychiatrischen Dienstes Hilden (Landkreis Mettmann), vorgestellt.
Folgen seelischen Schockerlebnissen wie Verlust, Gewalt oder sexueller Misshandlung seien auf den ersten Blick oft völlig unverständlich: So habe eine Mutter ihr Kind vier Tage alleine gelassen, bis es schließlich verdurstet sei. Der Grund: Die Mutter fühlte sich bedroht durch das Schreien des Kindes. Ihr Empfinden, so der Referent im Vechtaer Kreishaus vor 180 Zuhörern: "Ich muss mich vor dem Säugling in Sicherheit bringen." Ein erlittenes Schock-Trauma der Mutter wurde durch das Schreien quasi reaktiviert.
Wenn man nur noch mit Licht schlafen kann
Eine Folge eines unbewältigten massiven Ereignisses, eines Traumas, könne auch Angst sein, so dass die Betreffenden nur noch mit Licht oder laufendem Fernseher schlafen können. "Das Allein-Sein empfinden sie als große Gefahr", so der Psychiater. Größere Tiere wie etwa Hunde würden als Schutztiere gehalten.
Kuschelige Streicheltiere auf der anderen Seite böten eine "ungefährliche Nähe". Hipp: 80 Prozent einer bestimmten Klientel wolle Tierpfleger, Erzieher oder Altenpfleger werden. "Dies erlaubt eine ungewöhnliche, aber ungefährliche Nähe."
Warum sie ihren Mann nicht verlässt?
Daraus erkläre sich auch die Haltung "Besser, ich habe einen Mann, der mich schlägt, als dass ich alleine bin." Hipp: "Diese Menschen haben keine Angst: Die sind Angst." Die Kinder psychisch kranker Eltern fielen in der Schule häufig auf als "Störer, Schwänzer oder Tagträumer", so der Psychiater. 1,5 Millionen Kinder seien es, so sagt der Erste Kreisrat Hartmut Heinen in seiner Begrüßung, deren Eltern in Deutschland an einer Psychose, schweren Depression, an Alkohol oder Drogen litten.
Ganz gefährlich wird es für den Psychiater, wenn eine Mutter ihre Schwangerschaft erst am Tag der Wehen spürt. Durch diese schwere Kontaktstörung zu dem Heranwachsenden werde die Mutter später auch für das Kind kein Gespür haben.
Im Alter von fünf der Erzieherin das Messer in den Bauch gerammt
So wie die Mutter eines 5 ½-Jährigen, in dessen Kindertagesstätte Hipp als Psychiater gerufen wurde, weil der Junge einer Erzieherin ein Messer in den Bauch gerammt hatte. Die Situation zu Hause: eingetretene Türen, die Mutter übersäht mit blauen Flecken.
Den Kontakt zum Kind hatte die Alleinerziehende längst abgebrochen. Hipp: "Gewalt war für das Kind die einzige Möglichkeit, den Kontakt zur Mutter zu erzwingen." Der Junge sei auch später als Zehnjähriger nur in einer 1:1-Betreuung beschulbar gewesen.
Die Diagnose bereits nach fünf Minuten
Nach fünf Minuten Aufenthalt in einer Wohnung könne er oft bereits die Diagnose stellen. Nicht selten wohne dort kein Erwachsener, sondern im Grunde "ein kleines, einsames Kind, das den Auftrag hat, ei-gerne, kleine Kinder zu versorgen." Manchmal seien die Jungen und Mädchen innerlich älter als ihre Eltern.
Betroffene, psychisch kranke Frauen wünschten sich häufig einen Kaiserschnitt und wollen auf keinen Fall stillen. "Ich lasse doch niemanden an meinen Körper, auch nicht mein Kind", gab der Referent die Worte einer werdenden Mutter wieder. Hipp: "Mit hoher Wahrscheinlichkeit wurde sie selbst missbraucht."
Nah und doch fern
In der Sehnsucht nach Nähe und gleichzeitig der Angst davor sei die moderne Kommunikation und das Internet für die Traumaklientel quasi wie ein Medikament. Hipp: "Über die ungefährliche Nähe des Handys sei man ständig im Kontakt." Wenn es gefährlich werde, könne man ihn jede Sekunde beenden.
Welchen Rat gibt Hipp Eltern und Fachpersonal? Nur noch in Deutschland halte sich die Mähr, dass man Kinder nicht verwöhnen solle. "Man kann sie nur angemessen versorgen oder traumatisieren." Wichtig sei, ihnen Wurzeln zu geben. "Ohne Wurzel keine Flügel", ist der Seelenkundler überzeugt. Und: "Glückshormone sind wie Dünger für das Hirn." Schlecht gebundene Kinder können schlecht lernen, da sie nur mit ihrer Angst beschäftig seien. "Bindung ist Bildung", seine Überzeugung.
Ohne Bindung stirbt das Kind
Drei Dinge sind es, die ein Kind seinen Worten nach zu Beginn des Lebens braucht: "Sauerstoff, Nährstoffe und Bindung". "Ohne die drei, das heißt auch ohne Bindung, stirbt es." Ein ganzer Pool an psychischen Störungen habe seine Wurzeln in frühkindlichen Bindungsstörungen. Im späteren Leben seien solche Scharten oft nicht mehr auszuwetzen.
Eine irrige Meinung sei es, Erziehung funktioniere über Einsicht. Hipp: "Wiederholung schafft Hirnstruktur." Daran scheitern viele psychisch kranke Eltern. Die Traumatisierung der Mutter werde dann zur Gegenwart des Kindes. So werde das Trauma auf die nächste Generation übertragen.
Irritiert auf die Welt
Ein Kind im Bauch, über das die Mutter sage: "Es tritt mich, weil es mir weh tun will", komme bereits "irritierbar" auf die Welt.
Seit September 2013 bietet der SkF Vechta das Projekt "Hilfen für Kin-der psychisch erkrankter Eltern" an. Unter anderem durch die Welker-Stiftung gefördert treffen sich die Kinder in einer "Tu-Gut-Gruppe" ein-mal pro Woche. Dort könnten Kinder Fragen stellen, die zu Hause nicht erlaubt seien wie "Warum ist Mama so komisch?" Und Informati-on und Begleitung seien wichtig: "Die Schizophrenie des Papas ist ja nicht weg, wenn er aus der Klinik kommt", wissen die SkF
Zitat und weitere Äußerungen:
"Manchmal sind die Kinder von ihrer Reife her älter als ihre Eltern."
Dr. Michael Hipp
- Logisch ist für Psychiater Hipp das Phänomen, dass Menschen sich dem Islamischen Staat freiwillig als Kämpfer anböten. "Die sind innerlich so voller Wut und Hass, die müssen sie nach draußen geben", erklärt er dieses Verhalten. Ebenso wie die Gewaltauftritte von Hooligans, "die sich nur treffen, um Gewalt auszuüben." Der Grund liegt für den Therapeuten auf der Hand: "Das ist Gewalt, die sie selbst erlebt haben."
- Hipp: "Deutschland war nach dem Krieg ein massentraumatisiertes Land." Die Gefühle der Generation seien meist abgeschnitten worden durch Sätze wie "Ich war nicht dabei" oder "Davon habe ich nichts gewusst. Folgen solcher Traumatisierungen: "Der äußere Mangel wird zum inneren Mangel." Es entstehe "eine gefrorene Ohnmacht und ein Urmisstrauen, das das schlimmste ist, was es gibt."
Dietmar Kattinger, 07.05.2015