Cloppenburg-Stapelfeld.
Das Kindeswohl steht bei der Hilfe für Suchtkranke in
Deutschland nicht immer an erster Stelle. Das sagte der Lüneburger Professor
Dr. Ruthard Stachowske am Donnerstag, 19. März, im Rahmen der Tagung
„Kindeswohl im Blick der Suchthilfe“ von Caritas und Katholischer Akademie
Stapelfeld.
Obwohl 64 Fachleute aus 25 Einrichtungen mit dem Fall Kevin aus
Bremen befasst gewesen seien, hätte es zu dem tragischen Ausgang kommen können.
Eine der Ursachen für den Referenten: Es habe im Netzwerk der Hilfe keine
„legale Klammer“ gegeben.
„Dass ein Kind in zwei Jahren keine 24 Knochenbrüche haben kann,
wurde nicht gedeutet“, stellte Stachowske fest. „Man hat nicht eins und zwei
zusammengezählt.“ Auch habe niemand gesagt, dass die Jugendhilfe bei dem
drogenabhängigen Vater keine Chance habe, „eine dissoziale Persönlichkeit zu
steuern.“ Neben dem Fall Kevin habe es seit 1998 bundesweit 13 ähnlich
gelagerte Todesfälle von Kindern gegeben.
Häufige Ursache solcher Misshandlungen durch abhängigkeitskranke
Eltern sei die Kopplung mit einer zweiten Störung. So im Fall der toten Carolin
aus Memmingen. Der Rückkopplungseffekt der schweren Störungsbilder sei nicht
erkannt worden. „Unser System ist dafür nicht ausgelegt“, sagte der Referent.
Vor rund 40 Zuhörern kritisierte Stachowske, dass die Familie als
Ganzes im deutschen Gesetz keinen Rechtsstatus habe. Weiter defizitär ist für
den Leiter der Lüneburger „Therapeutischen Gemeinschaft Wilschenbruch“, dass
das Wohl des ungeborenen Kindes nicht geschützt sei.
So sei eine Mutter während einer Schwangerschaft zehn mal in eine
Klinik eingeliefert worden. Teilweise mit einem Promillegehalt von 4,5. Ein
Ereignis, das für die Rettungskräfte nur schwer auszuhalten war, berichtete
Stachowske.
Dieses oder ähnliche betroffene Kinder hätten später keine Chance
auf eine altersgemäße Entwicklung. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind
spätere Folgen durch Alkoholkonsum der Mutter während ihrer Schwangerschaft davon
trage, sei höher als bei der Einnahme von reinem Heroin. Auch sei der Anteil
der Kinder, die inzwischen durch Drogenersatzmittel sterben, höher, als
gemeinhin angenommen.
Ohne Schuld zuweisen zu wollen kritisierte Stachowske auch Ärzte.
Manche Mediziner hätten nicht gelernt, auf bestimmt Symptome etwa bei kleinen
Kindern zu achten.
Dass Klienten in Suchtberatungsstellen dem Berater vertrauen
können müssen, machte der Justitiar des Diözesancaritasverbandes Münster, Peter
Frings, deutlich. Auch für Klienten gelte das „Grundrecht auf informationelle
Selbstbestimmung“.
Wenn der Berater feststelle, dass Kindeswohl gefährdet sei, könne
Wissen beispielsweise an das Jugendamt weitergegeben werden „zwar gegen den
Willen des Klienten, nie aber ohne dessen Wissen.“ Letzteres unterstrich auch
die Leiterin des Lüneburger Jugendamtes Marlis Otte.
Grundsätzlich habe jeder Klient das Recht zu erfahren, „was über
ihn gespeichert wird, wie und warum“, sagte der Rechtsexperte. Es müsse ihm
offengelegt werden, „wem, wann welche Informationen weitergegeben werden.“
Als Ansätze um weitere Fälle wie den des Kevin zu verhindern,
nannten die Fachleute unter anderem die Nutzung von Experten-Wissen, die
„wertschätzende Kooperation“ unterschiedlicher Berufsgruppen sowie die
Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen.
Zitat:
„Man hat nicht eins und zwei zusammengezählt.“
Professor Dr. Ruthard Stachowske zum Fall Kevin in Bremen
Dietmar
Kattinger
Referent für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Tel. 04441/8707-640