130 Heilpädagoginnen und Sozialpädagoginnen aus ganz Niedersachsen haben sich am Donnerstag, 13. März, auf Einladung der Caritas-Einrichtungen der Behindertenhilfe zu einer Fachtagung in der Katholischen Akademie Stapelfeld getroffen. Die Einrichtungen der Behindertenhilfe seien starke Partner in der Caritas, sagte Caritasdirektor Dr. Gerhard Tepe. Die Meinung der Praktiker sei Grundvoraussetzung für gemeinsame Positionen innerhalb der Caritasverbände in Niedersachsen.
Starke Partner
Das Hauptreferat über das "Kindeswohl als gesellschaftliche Herausforderung" hielt Prof. Dr. Andreas Warnke, langjähriger Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universitätsklinik Würzburg und einer der bundesweit profiliertesten Vertreter seines Faches. Ein erschreckendes Bild über den zunehmenden Hilfebedarf zeigte Warnke seinen Zuhörerinnen auf. 2,3 Millionen Kinder und Jugendliche sind in Deutschland nach Angaben des Berliner Robert-Koch-Instituts (2007) täglich behandlungsbedürftig und gelten als psychisch krank.
Bei circa 500 000 Kindern und Jugendlichen sei ADHS diagnostiziert. Die Zunahme psychischer Probleme betreffe aber auch Erwachsene, machte der Kinder- und Jugendpsychiater deutlich. Seien für sie im Jahr 2000 noch 419 Mio. Tagesdosen Antidepressiva verschrieben worden, so waren es 2011 1,2 Mrd. Bei Neuroleptika liege die Zahl inzwischen bei 303 Mio. Tagesdosen. Nach AOK-Angaben hätten Arbeitsunfähigkeiten aufgrund psychischer Belastungen von 1998 bis 2009 um mehr als 70 Prozent zugenommen.
Mehr Frühförderung
Die interdisziplinären Frühförderstellen müssen immer mehr Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten und mehrfach belastete Familien betreuen. Für sechs Prozent der Kinder bis zum sechsten Lebensjahr besteht inzwischen Frühförderbedarf. Nur die Hälfte von ihnen wird durchschnittlich erfasst, aus sozial schlecht gestellten Familien sogar nur drei von zehn.
Trotz sinkender Geburtsraten stiegen die Fallzahlen der Erziehungsberatungen in Deutschland von 1991 bis 2009 von 154 000 auf mehr als 442 000, erzieherische Hilfen von circa 370 000 auf über eine Million. Vor allem Notaufnahmen nehmen dramatisch zu, wusste Warnke. Die Zahl stationärer Krankenhausfälle in der Kinder- und Jugendpsychiatrie hat sich von 1994 bis 2006 fast verdoppelt. 40 000 Kinder werden inzwischen jedes Jahr In Obhut genommen. Nur 39 Prozent können später in ihre Familien zurückkehren.
Armut, psychische Erkrankungen oder Suchtprobleme von Eltern sind oft Auslöser für psychische Probleme bei Kindern. Der häufigste Grund jedoch sind Trennungen der Eltern. Waren 1991 99 000 Kinder und Jugendliche von 136 000 Ehescheidungen betroffen, so stieg ihre Zahl bis 2012 auf 143 000 bei fast 180 000 Scheidungen.
Gutes Familienleben
Nach den Shell-Jugendstudien von 2002 und 2010 legen über 90 Prozent der Jugendlichen großen Wert auf gutes Familienleben und gute Freunde. Die Wirklichkeit aber sieht anders aus. Dazu lebe bundesweit fast jedes fünfte Kind in Armut, sagte Warnke. Und Armut hänge eng zusammen mit schlechterer Gesundheit und Bildung.
2011 machten Familien mit nur einem Elternteil 19 Prozent aus, ihr Anteil bei Erziehungsberatungen aber beträgt 38 Prozent. In 90 Prozent der Fälle müssen Frauen die Erziehung allein meistern, jede dritte verdient weniger als 1000 Euro im Monat.
Veränderte Strukturen
Doch auch Familien mit zwei Elternteilen müssen mit veränderten Strukturen zurechtkommen. Immer mehr Elternteile wohnen berufsbedingt nicht konstant bei ihrer Familie. Gleichzeitig sank nach einer aktuellen AOK-Erhebung die wöchentliche Erziehungsarbeitszeit von Müttern innerhalb der letzten 20 Jahre von 27 auf 17 Stunden.
Positive Problemlösungen, der Zusammenhalt in einer stabilen Familie, die Geborgenheit durch beide Eltern und die Erfahrung von Sinn und Lebenswert seien der beste Schutz vor psychischen Störungen bei Kindern und Jugendlichen, so Warnkes Resümee.
Text: Ludger Heuer, 14.03.2014