Aus dem Dorf mit den ehemals 100 Familien, wie sie sagen. Kein Name, kein Ort. So groß ist die Angst auch noch nach drei Monaten hier in Deutschland - in der Caritas-Einrichtung, in der sie jetzt leben, zwischen Neuenkirchen und Wilhelmshaven. "Die spüren uns auf." Mit "Die" sind die IS-Kämpfer gemeint, die sie in ihrem Dorf erlebt haben.
"Die letzten Wochen haben wir im Badezimmer geschlafen", erzählt die kurdisch-yezisidsche Frau und Mutter, die knapp 50 sein dürfte. "Im Bad gab es keine Fenster, da hatten wir weniger Angst", erzählt sie, die fünf Kinder zur Welt gebracht hat. In den anderen Räumen habe es große Fenster gegeben; die hätten Kämpfer leicht eindrücken können.
Das halbe Dorf hat es so gemacht
‚Schlaf‘ sei dabei nicht das rechte Wort. Man habe aneinander gelehnt die Nacht verbracht. Mal habe ihr Mann Wache geschoben, mal sie selbst. Immer das Nötigste im Bad mit dabei, falls man in den dunklen Stunden doch noch fliehen müsste. Das halbe Dorf habe es so gemacht. Wie gelähmt habe sei sie schließlich gewesen, erzählt die gepflegte, gutaussenden Frau mit den hinten zusammengesteckten tief-schwarzen Haaren und den Ohrringen.
Dabei wollten sie bleiben. Sie, die Besitzer eines kleinen Supermarkts. "Vielleicht legt sich das", hatten sie im Blick auf die Kämpfe gehofft. "Freiheitskrieger" hätten sie die IS-Kämpfer damals noch genannt. Doch dann hätten die sich immer mehr organisiert.
"Wir müssen die Kinder retten"
Irgendwann schließlich kamen drei Tage ohne Brot, ohne Gas. "Immer mehr wurde gestoppt", gibt die Dolmetscherin die Worte der Mutter wieder. An einen Gang in die nächstgelegene Stadt war überhaupt nicht mehr zu denken. Mit einem Mal wurde klar: "Wir müssen die Kinder retten." Kinder, die jetzt in eine oldenburgische Schule gehen. Am Anfang ohne ein Wort Deutsch.
Alle hätten viel mitbekommen. Der Jüngste, Achtjährige zum Beispiel: "Ist es nicht Wahnsinn, dass er die Waffen am Klang ihrer Kugeln er-kennen kann?" übersetzt die Dolmetscherin die Worte des end-vierzigjährigen Vaters.
"Zerstückeln sie dich oder nicht?"
Wunden, die ihre Spuren hinterlassen haben: Als es vergangene Tage ein Wortgefecht auf dem Flur der Caritas-Einrichtung gegeben habe, habe der Junge nachts sofort eingenässt. Überhaupt sieht er, der auf Grund des anderen Klimas jetzt schon Ohrenschmerzen hat, älter aus. Sein Gesicht passt nicht zum kleinen Körper. Die Haut gegerbt. So als habe sie mehr durchlitten, als mit acht üblich ist.
Kein Wunder: Das Prinzip der IS sei es gewesen, den Menschen Angst einzujagen: "Zerstückeln sie Dich oder nicht?" habe die Frage gelautet, erzählt der Vater. Schlimm sei auch das Misstrauen gewesen: "Wer steckt hinter dem verhüllten Gesicht? Kann ich meinem Nachbarn noch trauen?"
Dr. Heinz: Gehirn friert Schockerlebnisse ein
Abgesehen von den Tränen der Frau zwischendurch erzählen beide relativ gefestigt. Als "Völlig normal", beschreibt dies der Leiter der auch auf traumatisierte Patienten spezialisierten Suchtkliniken in Visbek und Neuenkirchen, Dr. Thomas Heinz. Die Ereignisse würden im Gehirn regelrecht "eingefroren". An die erste Stelle rückten die Bedürfnisse nach äußerer Sicherheit wie Wohnen und Essen.
Die Hoffnung: Dass der - im Bild gesprochen - eingefrorene Block im Gehirn irgendwann auftaut, indem das Geschehene in Worte gefasst werden und durch den Mund den Körper verlassen kann - mit oder ohne Therapeuten.
Eindrücke bleiben ein Leben lang
Zwar würden Menschen solche Ereignisse unterschiedlich verarbeiten. "Aber man kann davon ausgehen, dass sie das ganze Leben unterschwellig bleiben", sagt Heinz, selbst Trauma-Therapeut. So wie der Krieg die eigene Elterngeneration bis heute begleite.
Dietmar Kattinger, 25.09.2014