Landkreis Vechta. Als es auf die Affen zu sprechen kommt, wollen sich Evelyns* Tränen Bahn brechen: Die drei Figuren auf dem dunkelbraunen Tisch im Esszimmer, die stehen für "Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen". Denn das würde Evelyn manchmal selbst am liebsten.
Schweigen, weil Stiefsohn Elias seine Autos hintereinander aufgereiht hat, als er noch kleiner war. Exakt gerade mussten sie stehen. Keines durfte krumm parken. Ein andermal habe er eine halbe Stunde nur auf eine Wand gestiert.
"Da kann was nicht stimmen", drängte sich ihr und Elias‘ leiblichem Vater Micha auf. Erst schemenhaft, dann immer deutlicher. "Man will das anfangs natürlich nicht wahrhaben", sagen sie. Eine dreieinhalbjährige Odyssee mit Stationen bei Ärzten und in Facheinrichtungen schildern Mutter und Vater. An Autismus habe man gedacht. ADHS wurde diagnostiziert und anderes.
Evelyn und Micha sprechen von 20 Tagen im Monat, die schrecklich seien. Nur zehn gute gebe es pro Kalenderblatt für die junge Familie aus dem Landkreis Vechta. Sie erzählen das fast auf den Tag genau sechs Monate später, nachdem sie in einer Klinik bei Münster Elias‘ Diagnose erfahren haben: an FAS leide er. An einem "fetalen Alkoholsyndrom" also. Was daher kommt, dass Elias leibliche Mutter während der Schwangerschaft Alkohol getrunken hat - mit fatalen Folgen für ihren Sohn.
Mit der Konsequenz etwa, dass Elias immer wieder das ganze Haus mit Farbstiften angemalt hat. "Von unten bis oben", sagen die Eltern. Dass er aus dem Supermarkt weglaufe und Mutter und Vater überlegen, ob sie anschließend überhaupt mit ihm schimpfen sollen oder ob er eigentlich gar nichts dazu kann.
"Der Vormittag in der Schule geht oft", sagen sie, "aber am Nachmittag entlädt es sich wie ein Gewitter". Und nicht nur die Eltern, sondern auch Elias spürt als bald Zehnjähriger, dass manchmal etwas nicht mit ihm in Ordnung ist. "Das ist mein Kopf", sage er dann.
Ein Grund, warum Evelyn und Micha in Vechta nun eine Selbsthilfegruppe gründen möchten. "Wir waren zwar in einer FAS-Gruppe in Friesoythe", berichten sie, "aber das war fahr- und arbeitstechnisch auf die Dauer nicht machbar." Austauschen möchten sie sich mit leiblichen oder Adoptiv- und Pflegeltern über Ärzte, über wirkende oder nicht wirkende Medikamente, sprechen über ihre Umwege, die sie anderen Betroffenen ersparen wollen und von deren Wissen sie umgekehrt profitieren möchten.
Ihr Ziel ist, zu erfahren wie andere Eltern damit umgehen, dass ein Kind eine "24/7-Betreuung" braucht: Also jemanden, der an sieben Tagen die Woche 24 Stunden für ihn da ist. Wie sie es verkraften, dass es ein Junge immer wieder vergisst, dass man sich morgens anziehen, waschen und kämmen muss, die zwischendurch auch von Behörden hören, dass es an ihrer mangelnden Erziehungskompetenz läge. Sie, die immer mit einem Ohr bei ihrem Sohn sind, wenn er sich alleine im oberen Stockwerk aufhält.
Interessierte treffen sich zum ersten Mal am Freitag, 19. August, um 18.00 Uhr, in den Räumen des Andreaswerkes in der Großen Straße in Vechta. Interessierte können sich anmelden bei Melanie Fischer von der Kontakt- und Beratungsstelle Selbsthilfe des Landes-Caritasverbandes in Vechta, Tel. 04441/8707-0.
* Alle Namen geändert
Die Ursache des ‚Fetalen Alkoholsyndroms (FAS)‘ ist immer und ausschließlich Alkoholkonsum der Mutter in der Schwangerschaft, den man vereinfacht als ‚Vergiftung während der Schwangerschaft‘ bezeichnen kann.
Das Ungeborene erhält über die Nabelschnur den gleichen Alkoholpegel wie seine Mutter. Der Abbau findet hauptsächlich in der Leber der Mutter statt, die kindliche Leber ist noch unfertig und entwickelt erst nach der Geburt einen eigenen leistungsfähigen Stoffwechsel.
Der Alkoholkonsum der Schwangeren schädigt die körperlich-organische Entwicklung sowie die späteren kognitiven und sozialen Fähigkeiten des Ungeborenen irreversibel.
Es muss zurzeit davon ausgegangen werden, dass jeder Alkoholkonsum zu jedem Zeitpunkt der Schwangerschaft ein grundsätzliches Risiko für das Kind darstellt und keine Grenze benannt werden kann.
Der Alkoholkonsum des Vaters spielt hinsichtlich der Entwicklungsstörungen keine Rolle.
Quelle: nach Wikipedia.
Dietmar Kattinger: 29.07.2016