Es gibt sie doch noch: Die Veranstaltungen beim Katholikentag, die überfüllt sind. Jene ‚Foren‘, in die der Reporter nur noch mit seinem Journalistenausweis durch den leicht geöffneten Türspalt schlüpfen kann. In der er sich, an die Zeit vor dreißig Jahren erinnernd, drinnen auf den Parkettboden setzen muss. Wählend zwischen dem Platz unterhalb des gekippten Fensters, an dem es zieht, oder jenem, mit dem Rücken an die Rundsäule gelehnt.
Beiden gemein: Auf Kniehöhe aller anderen bleibt der Blick nach vorne verwehrt. Überfüllt, und das schon 15 Minuten vor Beginn. Beim alle zwei Jahren irgendwo anders in der Republik stattfindenden Treffen der katholisch Gläubigen, auf das der eine oder Abgesang bereits ausgerufen wurde. Und dessen Größe in der Tat geschrumpft ist von einst über 100.000 auf etwa die Hälfte.
Geplantes und Ungeplantes
Jener Katholikentag, von dem immer wieder verlangt wird, dass er eine politische Botschaft haben muss. Eine Wirkung in die Gesellschaft hinein. Hat er die? Erst mal ist er ist wie das Treffen einer Großfamilie. Da rückt der Frauenbund St. Marien von der Schwäbischen Alb mit acht Frauen an und zieht in Zweiergrüppchen von der "Genesis-Kapitel-eins-Betrachtung" über das Salafismus-Podium hin zum abendlichen Kirchenkabarett. Am Bahnhof treffen sich - geplant oder nach 30 Jahren absolut zufällig - frühere Freiburger Studienkollegen, der eine inzwischen in Passau, der andere in Paderborn.
Da steht am Abend der Begegnung auf dem Leipziger Markt ein Generalvikar mit einem Gläschen Wein in der Hand entspannt plaudernd beim Referenten für Gemeindeentwicklung. Familientreffen eben. Und beide müssen nichts entscheiden. Und es wird in dem Moment auf dem Leipziger Markt nicht gesprochen über den Zölibat oder den Diakonat der Frau.
Bistum Sachsen-Anhalt
In einem Umfeld, in dem die Frau am Kaffeetresen an der Autobahnraststätte 80 Kilometer vor der Thomaner-Stadt die Frage verneint, ob man sich schon auf dem Grund und Boden des Bistums Dresden befinde. Zu welchem Bistum das hier den gehöre: "Zum Bistum Sachsen-Anhalt".
Und doch ist es mehr als das bereichernde Zusammenkommen: Dass sich ein renommierter protestantischer Rechtsgelehrter aus dem Frankenland dafür bedankt, ein erstes Mal beim Treffen der Glaubensgenossen der anderen Fraktion dabei sein zu dürfen, nimmt ihm der Hörer als fachlich und konfessionell aus dem Herzen kommend ab. Dass er mit dem Moraltheologen und dem Philosophen um die Würde des Menschen ringt, führt über die vier Tage in der zehntgrößten Stadt Deutschlands mit ihren 570.000 Einwohnern hinaus.
Respekt vor den älteren Teilnehmern
Wenn 250 Männer und Frauen 90 Minuten lang im schlecht belüfteten Raum ausharren, in dem der Duftsinn durch manch verschwitztes Karohemd und die eine und andere Polyesterblusen bis an seine Grenze belastet wird, und sich dort mit der Rolle von Religion in Europa befassen, muss das mehr sein als nur Zeitvertreib.
Unter den Teilnehmern nicht wenige, die den 70. Lenz überschritten haben. Nicht wenige, die mit der Geh-Hilfe in der rechten Hand das Kopfsteinpflaster überschreiten. Die Köpfe zusammensteckend erstaunlich souverän auf weise Weise die Straßenbahnverbindung vom Leipziger Augustusplatz bis zum dortigen Zoo herausfinden. Stichwort ‚weiß‘:
Mit dem Katholikentag älter geworden
Grau in seinen unterschiedlichsten Schattierungen dürfte die dominierende Farbe sein. Es sind die 50-Jährigen, die sich aufmachen zu den alle zwei Jahren statt findenden Treffen vom Vorabend des Fronleichnamsfestes bis zum Sonntag darauf. Jene, die 1978 in Freiburg auch schon dabei waren oder 84 in München. Die jetzt schon ihr Zimmer für 2018 in Münster reservieren und nach Leipzig nicht selten ihre Kinder mitbringen.
Eine Leistung vor allem vom Nachwuchs: Wenn es ihm also schon nicht mehr peinlich ist, sich mit Mama oder Papa außerhalb der eigenen vier Wände zu zeigen. Und die anderen Jugendlichen? Bei "Gewalt in der Bibel und im Koran" sind sie zu sehen - erstaunlicherweise. Beim Wise-Guys-Konzert vermutlich ebenfalls. Ob es für sie keine Angebote gibt?
"Ja, ich gehöre auch dazu"
Und doch: Im Blick auf die, die da sind, kommt machen die Frage auf die Lippen, was es denn sei, das die Teilnehmer genommen hätten. Das wollten sie auf alle Fälle auch. Im Gottesdienst der Nationen, wo viele hundert Personen es aushalten, wenn ein Punk mit erhobenem Stinkefinger den fulminanten Gottesdienstraum der neuen Leipziger Dreifaltigkeitskirche verlässt. Wo sich innerhalb kürzester Zeit tiefe Gespräche zweier vorher einander fremder Menschen entwickeln. Wenige Minuten, bevor in schillernde Farben gehüllt Chormitglieder aus Vietnam den Gottesdienst gestalten werden. Wo gestandene Mannsbilder an der Bushaltestelle stolz den diesjährigen giftgrünen Katholikentagsschal - das Erkennungszeichen - tragen, als wollten sie sagen: "Ja, ich gehöre auch zu dieser Kirche und ich bin froh darüber."
Wo ein Würzburger Gospelchor die Menschen in der Fußgängerzone die Umstehenden durch Lied und Polonaise erfreut. Wo ein designierter Bischof Timmerevers tosenden Applaus dafür bekommt, dass er sich in der Nikolaikirche bedankt für die Gebete der Leipziger, die schon ab 1982 an jedem Montag zu dem heute vereinten Deutschland mit beigetragen haben.
Wie im Schullandheim
Und wo am letzten Tag eine Stuttgarter, leicht angegraute Frauengruppe sich im Frühstücksraum so benimmt, als wären sie beim Schullandheimaufenthalt.
Eine politische Wirkung? Eine Frucht, die in die ‚Polis‘, die ‚Stadt‘, den ‚Staat‘ hineinwirkt? Neben der bundesweit wahrgenommenen Demonstration gegen TTIP, neben manchen Positionspapieren, neben Medienstatements auch das: Menschen wirken, als würden sie innerlich gestärkt nach Hause fahren, neu miteinander verbunden. Sich ihrer gläubigen Wurzeln vergewissert habend. Bereichert um das Wissen um eine weltweite Kirche. In einer Welt, in der bei den großen Gottesdiensten erstmals martialisch bewaffnete Polizisten neben den Ministranten und Priestern ihren Dienst tun.
Dietmar Kattinger, 29.05.2016
Pressemitteilung
Polizisten neben Messdienern
Erschienen am:
29.05.2016
Beschreibung