Dr. Romberg, noch hängen die Lichterketten vor jedem Haus und gleichzeitig häufen sich die Suizide in der Region. Haben Sie eine Erklärung dafür?
In der Tat, es ist uns bekannt, dass in bestimmten Jahreszeiten, in Zeiten des Übergangs, Suizide häufiger auftreten. Es ist der Frühling, es sind aber auch die Herbst / Winterzeiten. Manchmal sind es auch Situationen, in denen die Menschen aktuell leben: Wie etwa aktuell in Griechenland
Was lösen solche Zeiten des Übergangs aus?
Es sind Sinnfragen, die hier aufbrechen können und als Krise erlebt werden. Wir haben zwei Schwerpunktgruppen, in denen die Selbstmordrate höher liegt. Das sind die Jugendlichen einerseits, bei denen es um Fragen geht wie ‚Wer bin ich eigentlich?‘. Und es sind die 50- bis 70-Jährigen, bei denen das Lebensende langsam in Sicht kommt und bei denen beispielsweise die Sinnfrage ebenfalls neu aufbricht.
Nun klagen derzeit ja viele über das Wetter, wollen nicht aufstehen, nicht aus dem Hause. Wo ist der Punkt, wo der Zeiger bei Betroffenen sich zum Gefährlichen hin neigt?
Dieser Punkt ist dann erreicht, wenn der Gedanke an eine Selbsttötung immer stärker als die einzige Lösung in den Vordergrund tritt. Das Bild eines Trichters trifft es ganz gut: Wenn also die Engführung so weit fortgeschritten ist, dass nur dieser eine Weg noch als der mögliche Ausweg erscheint.
Grundsätzlich sind Suizid-Gedanken nicht selten. Jeder zweite Jugendliche kennt sie. Wenn ich allerdings merke, dass ich mich solchen Phantasien gegenüber immer weniger abgrenzen kann, dann ist Hilfe erforderlich.
Nehmen wir einmal Weihnachten oder Silvester. Wenn jemand sich in diesem Sog des Trichters fühlt, was kann er oder sie abends um 22 Uhr tun?
Anrufen. Mit jemandem sprechen. Es gibt Hotlines von der Telefonseelsorge angefangen bis hin zu verschiedenen Sorgen- und Notrufnummern. Selbstverständlich kann es auch eine Person meines Vertrauens sein. Wenn die Face-to-face, also die direkte Kommunikation, aber zu schwierig ist, gibt es auch anonyme Anlaufstellen im Internet, bei denen ich keinen Namen und keinen Ort nennen muss. Wenn ich Dinge ausspreche, ist das bereits wie wenn ‚Luft an eine Wunde kommt‘, um im Bild zu sprechen.
Wann leuchtet eine Warnlampe für Umstehende so stark, dass sie handeln müssen?
Nicht selten hören wir Sätze wie "Am liebsten möchte ich nicht mehr da sein. Dann würde ich Euch nicht mehr zur Last fallen." Worte, die einfach so dahin geworfen werden. Angehörige wollen solche Klagen am liebsten überhören. Hier möchte ich deutlich appellieren, sie ernst zu nehmen und nachzufragen. Erst über ein Gespräch finde ich heraus, ob es nur so dahin gesagt ist, oder ob mehr dahinter steckt.
Das kann manchmal wie ein SOS-Funkspruch sein, ein Testsignal: "Hört jemand mein Klagen? Hört mich jemand?" Oder lohnt es sich schon gar nicht mehr zu klagen.
Nachfragen verschlimmert die Lage also nicht!?
Ganz im Gegenteil: Nachfragen führt mich aus der Isolation heraus. Wir, die wir beruflich mit solchen Menschen zu tun haben, bekommen eher dann Angst, wenn die einmal geäußerte Klage plötzlich verstummt, und sich die Stimmung des Betroffenen plötzlich verbessert. Dann werden wir besonders hellhörig. Dann kann es sein, dass sich Der- oder Diejenige innerlich schon für den Suizid entschieden hat. Schweigen macht uns noch besorgter.
Sehr besorgt sind im Übrigen Fachleute bei Suizid-Äußerungen unter Alkohol- oder Drogeneinfluss. Zu Recht reagieren Rettungssanitäter hier noch schneller und aufmerksamer, weil die Hemmschwelle für suizidale Handlungen unter dem Einfluss solcher Substanzen niedriger ist.
Wie helfen Sie grundsätzlich einem lebensmüden Menschen?
Wir versuchen auf die Lebensseite zu kucken. Wir fragen beispielsweise: ‚Könntest Du das, was Du dir nach dem Tod ersehnst, nicht auch hier in diesem Leben finden?‘ Oder wir kucken: ‚Was hast Du, das Dein Leben lebenswert macht?‘ Konkret schließen wir beispielsweise einen Lebensvertrag mit den Jugendlichen, den wir per Handschlag oder auch schriftlich besiegeln. Wir vereinbaren dann - manchmal im Beisein der Eltern - dass wir uns zum nächsten vereinbarten Termin am folgenden Tag, in der folgenden Woche, wieder lebendig sehen.
Es gibt also bei jedem etwas, für das es sich zu leben lohnt!?
So ist es. Der Suizid als Ausweg scheint für manchen als eine Wahl, die aber meistens darauf zurückzuführen ist, dass ich keine andere Möglichkeit mehr sehe. Wir verstehen uns als jemand - und so kann sich jeder Nicht-Fachmann auch verstehen-, der Türen öffnet.
Fakten:
- Die Zahl der Suizidtoten ist jährlich fast doppelt so hoch wie die Zahl der Verkehrstoten.
- Ein Suizid löst bei mindestens sechs Menschen seelisches oder körperliches Leid aus.
- Suizid findet sich in allen sozialen Schichten.
- Suizid ist immer noch ein Tabuthema in Deutschland.
- Anlaufstellen: www.suizidprophylaxe.de; www.fideo.de; www.frnd.de; www.agus.de;
Interview: Dietmar Kattinger