Visbek. Ein miserables Zeugnis haben Experten am Mittwoch, 4. Februar, dem Schutz der Opfer von Sexual- oder Gewaltverbrechen in Deutschland ausgestellt. Lediglich 10 Prozent der Sexualstraftäter würden bezüglich ihres künftigen Risikopotentials psychiatrisch begutachtet, sagte Klaus Michael Böhm, Richter am Oberlandesgericht Karlsruhe im Rahmen der Tagung „Opferschutz – eine gesellschaftliche und fachliche Herausforderung“. Dabei wurde der neu gegründete Trägerverein für die sogenannte „Zürcher Opferschutzcharta“ der Öffentlichkeit vorgestellt.
Das deutsche Strafverfahren sei dagegen allein auf die Ermittlung von Schuld ausgerichtet, hieß es in der Suchtfachlinik für Frauen St. Vitus in Visbek (Landkreis Vechta).
Die Initiative möchte durch möglichst viele Unterschriften und Mitgliedschaften erreichen, dass „bei allen Sexualstraftätern und Gewaltverbrechern eine Prognose bezüglich ihrer Rückfälligkeit gestellt wird“, sagte der Begründer der Zürcher Opferschutzcharta, Dr. Frank Urbaniok (Zürich). Rund 150 Unterschriften gibt es bereits.
„Dort, wo es möglich ist, sollte eine Therapie durchgeführt werden, um tickende Zeitbomben zu entschärfen“, forderte der international tätige Psychiater und Chefarzt. Letztlich sollen weitere Opfer verhindert werden.
Auch wenn nach den Worten von Urbaniok drei bis fünf Prozent der Täter nicht therapierbar seien und daher in lebenslänglicher Sicherungsverwahrung untergebracht werden müssten, könnte durch ein psychiatrisches Gutachten allein schon die Tatsache ihrer Nicht-Behandelbarkeit festgestellt werden.
Etwa bei einem 17-jährigen Täter, der fünf Vergewaltigungen und einen Sexualmord hinter sich hat. Urbaniok: „Das wächst sich nicht aus!“ Grundsätzlich spiele bei der Frage eines künftigen Risikos das Alter keine Rolle.
Eine Therapie brauche etwa 80 Sitzungen. Dann sei „schon viel erreicht“. Die Kosten dafür lägen bei etwa 6.000 Euro. Ein Tag in einer normalen Haftanstalt koste dagegen allein schon 90 Euro. Unabhängig von rechtlichen oder ethischen Fragen sei eine Therapie rein wirtschaftlich sinnvoll.
Fakt sei, dass 97 Prozent der Sexualstraftäter irgendwann wieder entlassen werden, berichteten die Experten. Die Frage sei dann: „Lebt ein therapierter oder ein nicht-therapierter Täter in meiner Nachbarschaft“, spitzte Urbaniok zu.
Durch eine Therapie könnten 30 bis 50 Prozent der Rückfälle verhindert werden, berichtete der in Zürich arbeitende deutsche Psychiater. Anliegen der Opferschutzcharta ist es, durch Diagnose das Risiko eines Rückfalls zu bestimmen und es durch eine Therapie gegebenenfalls zu minimieren.
Als Ursache für das fehlende Problembewusstsein bezüglich des Opferschutzes sehen die Experten, dass das Deutsche Recht auf die Klärung der Schuldfrage fixiert sei. „Ob jemand an einer Persönlichkeitsstörung leidet, diese Frage stellt ein deutscher Richter nur in Ausnahmefällen“, konstatierte Böhm.
Die Schuld frage jedoch nur in die Vergangenheit und nicht, welches Risiko ein Täter für die Zukunft in sich trage. Auch fehlten die finanziellen und personellen Ressourcen: Auch wenn in Deutschland ein „wind of change“ spürbar sei, gebe es in Mannheim für 800 Gefangene beispielsweise drei Psychologen, berichtete Böhm. In Kanada dagegen gebe es keinen Sexualstraftäter, der nicht therapiert würde.
Für Opfer forderte die Visbeker Chefärztin Dr. Voigt konkret einen eigenen Warteraum in Gerichten, so dass Geschädigte vor ihrer Aussage nicht vom Täter eingeschüchtert werden könnten. Häufig müssten Therapeuten Opfern von einem Prozess abraten, weil sie diesen psychisch nicht durchstehen würden. Auch habe Voigt Patienten erlebt, die erst auf Grund eines Gerichtsprozesses stationär behandelt werden mussten.
Weitere Infos auch unter www.opferschutzcharta.org.
Dietmar Kattinger
Referent für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
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