Viele Christen mag diese Nachricht überraschen: Lange vor den Anhängern Jesu gab es Menschen, die sich um andere gesorgt haben. So steht es im ersten Satz des 3,2 Kilo schweren Begleitbandes zur Paderborner Ausstellung "Caritas. Von den frühen Christen bis zur Gegenwart".
Betritt der Interessierte einen Steinwurf vom Dom entfernt die Schau, so steht er oder sie unmittelbar vor dem wertvollsten aller Exponate: einer Abschrift jener beliebten Hochzeitslesung aus dem 1. Korintherbrief: "Wenn ich mit Menschen, ja mit Engelszungen redete und hätte aber die Liebe nicht, so wäre ich tönendes Erz." Alter des Fragments, dessen griechischer Originalwortlaut durch Berührung ins Deutsche übersetzt wird: 1830 Jahre!
Doch so uneigennützig wie im Paulus-Brief war die Menschenliebe nicht immer, erfährt der Besucher in der Bischofsstadt. Dort, wo noch bis zum 13. Dezember sozial-religiös Interessierte ebenso auf ihre Kosten kommen wie Historiker oder rein Kunstbeflissene: Zwar habe Kaiser Trajan Armenfürsorge durch sogenannte ‚Alimentarstiftungen‘ betrieben. Jungs aus armen Familien wurden auf diese Weise internatsmäßig untergebracht, lernten Lesen und Schreiben und erhielten eine militärische Ausbildung. Hintergedanken des Ganzen: Als Gegenleistung hatten sie dem Kaiser 20 Jahre lang zu dienen.
Die Nächstenliebe also nicht immer uneigennützig? Offensichtlich. Das lehrt die in dieser Form bisher einzigartige Zusammenstellung in der westfälischen Stadt an der Pader auch mittels eines Diptychons: ein mit Elfenbeinschnitzereien verzierter Holzkasten, in dem auf Wachs kurze Notizen geschrieben werden konnten, ein Vorläufer quasi des heutigen ‚tablets‘.
Diese Diptychen hat Flavius Clementinus 513 bei seiner Ernennung zum Konsul massenhaft verschenkt. Als selbstlose Liebesgabe? Weit gefehlt. Eher als ‚Werbegeschenk‘. Ebenso wie ‚Brot und Spiele‘ oder Münzen für die Armen wurden diese Gaben als Mittel zum Zweck verwandt, damit das Volk dem Konsul die Treue hielt, erläutert Kunstexperte Guido Apel während einer Führung.
Dass Eucharistie bereits früh mit Gaben für die Armen verbunden war, erfährt der Besucher an Hand eines schlichten, steinern Teils einer Tischplatte aus Santa Maria Maggiore (6. Jahrhundert). Freunde des Filigranen kommen hingegen eher bei einer Elfenbeinarbeit aus Norditalien auf ihre Kosten. Besonderheit des Werkes aus der Zeit um 900: Jesus wäscht nicht die Füße des Petrus, sondern diskutiert mit dem, der die Tat der Nächstenliebe verweigert.
Ein weiteres Detail wohlwollenden Tuns bringt die in neun Themenblöcke chronologisch angeordnete Schau ans Tageslicht: Außerhalb von Kirche und Klöstern entstanden in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts in ganz Europa Bruderschaften - die älteste beispielsweise in Bergamo, Norditalien (1260), um den Armen aus der Stadt zu helfen. Der Grund: Die Sorge um das eigene Seelenheil, um sich durch die Ausübung der Nächstenliebe das Fegefeuer oder sogar die Hölle zu ersparen.
14 der insgesamt 200 Leihgaben aus Amsterdam, New York, Florenz, London oder Rom haben die Werke der Barmherzigkeit zum Thema. Während in Matthäus 25 Vers 35 von sechs Werken die Rede ist (Hungernde speisen, Durstende tränken, Obdachlose beherbergen, Nackte bekleiden, Kranke pflegen und Gefangene besuchen), sind es später sieben. Eine historische Unachtsamkeit? Durch die Pest, jene grausame Epidemie im Mittelalter in ganz Europa, haben sich aus den Bruderschaften sogenannte ‚Elendenbruderschaften‘ entwickelt, die das siebte Werk der Barmherzigkeit eingeführt haben, nämlich die (Pest-)Toten ehrfürchtig zu bestatten.
In 22 unterschiedlichen Darstellungen kann der Besucher sich ihnen nähern: Etwa in der Monstranz der Waldbreitbacher Franziskanerinnen, in der eben jene sieben Werke den Leib Christi in der Mitte umgeben. Oder im monumentalen Werk eines unbekannten Antwerper Meisters aus dem Jahr 1490, der die Werke der Barmherzigkeit den sieben Todsünden gegenüber stellt und damit den Betrachter sagt, was er zu lassen hat, um nicht in der Hölle zu landen. Beziehungsweise, was er zu tun hat, damit er in den Himmel kommt.
Zu den weiteren Prachtexemplaren gehört der Einbanddeckel des sogenannten "Melisende-Psalters", jenes Gebetbuches der Königin Melisende, die im Heiligen Land ein dichtes Netz an Armen-, Kranken- und Pilgerfürsorge aufrecht unterhielt.
Wie eigentlich soll man die Caritas, jenen praktischen Ausfluss christlichen Glaubens, künstlerisch darstellen? Die Renaissance hat ab dem 15. Jahrhundert eine deutliche Antwort gegeben: als Mutter, die unter anderem liebevoll und geduldig ihre Kinder stillt. Auch hier dürften es über zehn - Feministinnen möglicherweise provozierende - Exponate sein.
Zu den sich wie ein Strang durchziehenden Themen gehört daneben das des barmherzigen Samariters. Wie viele Künstler, ob religiös oder areligiös, diese Arche-Geschichte der Welt zu Stift oder Pinsel gedrängt hat, zeigen die 22 Darstellungen in Paderborn. Angefangen bei der von Hodler, in welcher sich ein Mann in intimer, fürsorglicher Nähe über einen nahezu Unbekleideten beugt, der auf der nackten Erde liegt.
Oder im düster anmutenden Holz-Tryptichon mit den Titeln ‚Räuber‘, ‚Verwundeter‘ und ‚Samariter‘, welches Künstler Erich Heckel von Hand gefärbt hat. Der Eindruck, der jenes kleine Ereignis der Weltgeschichte auf die Künstler gemacht, hat, springt ob seiner zahlreichen, unterschiedlichen Ausgestaltungen spätestens beim Werk von Ernst Ludwig Kirchner auf den Besucher über: Fürsorglich hebt ein Pfleger einen Patienten in eine Badewanne. Eine Assoziation, die dem Künstler kam, als er selbst krank einer Klinik lag.
In ein dunkles Kapitel - quasi in das Gegenteil der Nächstenliebe - wird der Besucher mit der Liste der Menschen geführt, die aus der ‚Psychiatrischen Heilanstalt Warstein‘ im Juli 1943 mit dem Zug nach Hadamar, Weilmünster und Gießen abtransportiert wurden. Bei hohen Sommertemperaturen, auf engstem Raum zusammen gepfercht, wurden die geistig und körperlich Kranken kaum mit Wasser versorgt.
"Das Herz schrie auf bei all dem, was das Auge sah", schreibt eine Vincentinerin, die den Transport begleiten musste. Und weiter: "Die ganze Front war voller Neugieriger, die lautlos zusahen." Dabei, wie die arische Rasse rein erhalten werden sollte. In als Duschkabinen getarnten Räumen wurden viele getötet, ihres Zahngoldes beraubt und anschließend verbrannt. Auf den vorausgegangenen Brief-Appell der Vincentinerinnen, ihre Angehörigen zu sich zu holen aus Sorge, sie nie wieder sehen zu können, reagierten weniger als zehn Angehörige.
Spätestens am Ende der Ausstellung spürt der Besucher, dass die abgewandelte Goethesche Frage "Sag‘ wie hälst Du’s mit der Nächstenliebe?" auch an ihn gestellt ist: In acht unterschiedlichen Sequenzen einer Videoinstallation schauen junge und alte Männer und Frauen auf die Füße des Betrachters. Entsetzt, mit der Hand vor dem Mund, mit vor Schreck in Falten verzerrte Gesichter: So als ob an den Zehenspitzen des möglicherweise nur Kunstinteressierten Eschede läge, die Mitte des Bombenattentats von Madrid oder das Zentrum des Absturzes der Germanwings-Maschine in Südfrankreich.
Eine berührende, teils aufwühlende, belehrende Schau, deren Inhalt in die äußere Form übersetzt wurde: Neben einem vertonten Audioguide gibt es ein Heft in leichter Sprache; durch einen Umbau eigens für die Galerie können sich Menschen mit Handicaps ebenfalls von den Exponaten anrühren lassen. Verbunden mit einem gewichtigen Katalog (Verlag Michael Imhof, 720 Seiten, Preis vor Ort: 39 Euro 95), dessen Fachbeiträge auf mehr als 300 Seiten die 39 Euro 95 mehr als gerechtfertigt erscheinen lassen.
Ein Ereignis unter der Schirmherrschaft des Papstberaters Kardinal Rodriguez Maradiaga, das Kurator Professor Dr. Christoph Stiegemann zurecht als Wegbereiter für das kommende weltweite Jahr der Barmherzigkeit versteht, welches Papst Franziskus am 8. Dezember in Rom eröffnen wird.
Zwar spielt Paderborn in Sachen Fußball nicht mehr in der ersten Liga. In Sachen "Ausstellung" tut es die Bistumsstadt alle mal.
Caritas bietet Fahrt nach Paderborn
Zum Besuch der Caritas-Ausstellung in Paderborn lädt der Landes-Caritasverband für Odenburg Ehrenamtliche im sozialen Bereich am Donnerstag, 12. November, ein. Abfahrt ist um 7.30 Uhr in Cloppenburg (ZOB am Pingel Anton) und um 8 Uhr in Vechta (Zentraler Omnibusparkplatz ZOB). Im Preis von 25 Euro sind die Fahrt, Eintritt und Führung sowie Mittagessen enthalten). Rückkehr ist gegen 19 Uhr geplant. Anmeldung bis spätestens 5. November beim Landes-Caritasverband für Oldenburg, Jutta Scheele, Tel. 04441/8707-0.
Dietmar Kattinger, 01.10.2015