Cloppenburg-Stapelfeld. Ein Lokomotivführer überfährt einen Mann, der sich aus eigenem Entschluss auf den Gleisen festgebunden hatte. Zwei Wochen später versucht der Eisenbahner, das Führerhaus seines Zuges wieder zu besteigen: Herzrasen, Angstschweiß, Erstarrung. Der Mann, der statistisch gesehen in seinem Berufsleben ein bis zwei weitere Personen überfahren wird, schafft es nicht, die vier metallenen Stufen nach oben zu klettern, um seinen Arbeitsplatz wieder zu betreten. Die Folge eines seelischen Schocks, in der Fachsprache „Trauma“ genannt.
Um die Auswirkungen solcher Ereignisse auf späteres Suchtverhalten ging es am Donnerstag, 26. April, bei einer Tagung des Landes-Caritasverbandes für Oldenburg in Cloppenburg-Stapelfeld.
50 bis 90 Prozent aller Menschen machen in ihrem Leben eine traumatische Erfahrung, berichtete Dr. Wibke Voigt, Traumaexpertin und Chefärztin der Visbeker Suchtklinik „St. Vitus“ für Frauen. 15 bis 50 Prozent entwickelten auf den Schock hin eine sogenannte „Folgestörung“, sagte die Psychiaterin vor über 60 Medizinern und weiteren Therapeuten.
Während bei den Opfern von Gewalt- oder Kriegsverbrechen nur bei 20 bis 25 Prozent aller Betroffenen Folgestörungen auftreten, sei dies bei 50 Prozent der Opfer von Vergewaltigung und sexuellem Missbrauch der Fall. Reaktionen können Angst, Unruhe, Rückzug, Depression oder sich immer wieder aufdrängende Bilder sein, beschrieb Voigt, die 18 Jahre lang in der Akutpsychiatrie gearbeitet hat. Über die Entstehung und die Folgen von Traumata referiert sie heute unter anderem im Bundeskriminalamt, vor Richtern und Psychologen.
Im Gegensatz zu belastenden Situationen erlebe der Betroffene im Moment des Traumas Todesangst. Bei Naturkatastrophen, Folter oder Kindermisshandlung sei das Opfer ohnmächtig, hilflos und könne die Situation nicht kontrollieren, zog die Chefärztin eine Grenze zu Situationen, die zwar belastend seien, vom einzelnen aber verarbeitet werden könnten. Traumata seien wie „eine unentschärfte Bombe“. Wenn sie jedoch angerührt würden, lösen sich Reaktionen aus.
Dass seelische Höllenerlebnisse sich auf späteres Suchtverhalten auswirken, belegte Voigt durch Zahlen: So seien einer Studie zu Folge 44 Prozent alkoholabhängiger Frauen sexuell missbraucht worden. Von 215 untersuchten Drogenabhängigen seien 60 Prozent der Frauen und 25 Prozent der Männer sexuell missbraucht worden.
Auch Traumata von Prostituierten wurden untersucht, berichtete Voigt: So wurden einer internationalen Studie zu Folge 59 Prozent von Prostituierten körperlich misshandelt und 63 Prozent sexuell missbraucht. Von Deutschen Prostituierten seien 65 Prozent wiederholt und schwer misshandelt worden und 48 Prozent sexuell missbraucht. 70 Prozent von ihnen hätten schwere familiäre Gewalt miterlebt.
Die gute Nachricht: Es gebe Hilfe bei solchen seelischen Katastrophen. Die schlechte: es dauere und „ist sehr viel Arbeit“, fasste Dr. Wibke Voigt zusammen.
Zitat:
„Zugführer überfahren statistisch gesehen zwei bis drei
Menschen in ihrem Berufsleben“
Dr. Wibke Voigt
Ein weiteres Beispiel für
eine „Traumafolgestörung“:
Ein Kriegsveteran hat den Kessel von Stalingrad durchlitten, lebt danach
aber 50 Jahre unauffällig. Während eines Krankenhausaufenthaltes verkriecht er
sich plötzlich wie ein Kind unter seinem Bett. Der Auslöser: Im Zimmer nebenan
wird mit einem Presslufthammer gebohrt.
Dietmar Kattinger, Referent für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit