Lohne / Steinfeld / Friesoythe (LCV) "Überall sind Wanzen", sagt sie und wird kurzatmiger. "Es werden immer mehr. Sogar meine Unterwäsche ist voll mit Wanzen." Sie - nennen wir sie Anna - , die aussieht, als hätte sie die 70 überschritten. Die in Wirklichkeit aber zehn Jahre jünger ist. Die wenig später mit einem kleinen Gefäß in der rechten Hand die Blumen im Garten gießt, obwohl es erst geregnet hat.
Mit 16 weiteren Bewohnern lebt Anna in der geschlossenen Abteilung des Franziskus-Stifts in Steinfeld - und ist damit laut Landesamt für Statistik eine von 8.818 schwerbehinderten Menschen im Landkreis Vechta (Lk Cloppenburg 12.373).
Einen Tag lang haben Prälat Peter Kossen und Caritasdirektor Dr. Gerhard Tepe jetzt gemeinsam mit der Referentin für Behindertenhilfe, Nicole Nordlohne, ihre Blicke auf den Alltag gehandicapter Menschen gerichtet.
Bei denen es neben der körperlichen und geistigen Einschränkung auch die massive psychische gibt. Im Trend immer jünger würden auch schon 20-Jährige aus den Landeskrankenhäusern als "austherapiert" in Wohnheimen für Bewohner mit seelischen Behinderungen entlassen, berichtet Verwaltungsleiter Johannes Grelle.
Junge Menschen, die keine Struktur mehr mitbrächten. Für die es nicht mehr selbstverständlich sei, morgens aufzustehen, zu gewissen Zeiten Mahlzeiten einzunehmen. Die zwischen Arbeit und Freizeit nicht mehr unterscheiden könnten, ihre Zeit oft ‚verdaddeln‘ würden. "Auch ein Preis unserer Gesellschaft", ist Sozialarbeiterin Maria Pundt überzeugt.
"Es kann krank machen, keine Strukturen zu haben", sagt die Frau ohne einen Ton des Vorwurfs. Sie, die seit über 30 Jahren für und mit psychisch Kranken arbeitet.
Eher vorwurfsvoll klingt es, wenn Geschäftsführer Johannes Grelle von knapp 100 Euro spricht, die die psychiatrischen Wohnheime als Tagessatz erhalten. Und damit seine Kosten insbesondere in der geschlossenen Abteilung kaum decken kann. Die aus einem anderen "Topf" stammenden Leistungen in psychiatrischen Krankenhäusern wären dagegen pro Tag mehr als doppelt so hoch.
Dabei böten beide - besonders im stationären Bereich - ähnliche Strukturen an. Und in Steinfeld mit Erfolg: 26 Bewohner hätten seit 2007 aus dem geschlossenen Flur heraus zu einer anderen Wohnform befähigt werden können. Eine kleine Zahl einerseits, eine große Zahl, wenn man die Bewohner und die Schwere ihrer Krankheit erlebt. Männer und Frauen, die schizophren oder depressiv sind. Oder sich als sogenannte "Borderliner" immer wieder ritzen.
Wie Menschen so krank werden können? Das fange in der Kindheit an, ist zu hören. Und: "Auch unsere Zeit und Lebensweise produziert seelische Störungen bis hin zu massiven psychischen Erkrankungen."
Dass die Mär von der Zwangsjacke in die Geschichtsbücher der psychiatrischen Versorgung gehört, wüssten die Steinfelder schon längt, ist Pflegedienstleiterin Andrea Schmidt dankbar. Seien die Bewohner ihres Hauses im Ort gut integriert.
Frieda* etwa, die vor ihrem Geburtstag alljährlich alle Steinfelder Geschäfte abklappere, "und auch Geschenke bekommt", freut sich Schmidt. Oder die zehn bis 15 ‚Franziskaner‘, die im Ort regelmäßig zum Fußball gehen - bei freiem Eintritt.
Gerne nach draußen geht auch Josef Ostendorf aus Lohne. Mau-Mau spielen oder "auch mal ein Bier trinken", sagt er. Seit 40 Jahren im Andreaswerk hat der 60-jährige einen von 36 Plätzen in den drei Lohner Wohngruppen in der Stettiner Straße. Auf seinen Rollstuhl angewiesen und dennoch immer mit zufriedenem Lächeln träumt er davon, alleine zu wohnen. "Irgendwie stelle ich mir das noch schöner vor", gesteht er.
Ein Traum, den Geschäftsführer Matthias Warnking gut nachvollziehen kann. Schließlich sei das eigenständige Leben mit einer "ambulanten Wohnassistenz" - wie die Betreuung fachlich korrekt heißt - ein wachsendes Feld. "Er wird den stationären irgendwann überholen", erwartet der Leiter des Bereichs Wohnen, Guido Moormann.
Bereits heute wohnten 90 Menschen mit Behinderung im Landkreis Vechta alleine (im Gegensatz zu 141 stationären Wohnangeboten in Lohne und Vechta.) Mit einer Schattenseite: die verbliebenen Bewohner im stationären Bereich hätten einen so hohen Pflegebedarf, dass er mit dem unveränderten Personalschlüssel kaum mehr leistbar sei, klagt Warnking. Die positive Inklusion habe hier beinahe eine negative Exklusion zur Folge.
Sein Wunsch an die Firmen: Auch Menschen mit starken Handicaps in ihren Betrieb aufnehmen. "Jemand, der mit dem E-Rolli durch die Werkshalle fährt, könne beispielsweise Restware wegfahren oder Material beschaffen", weiß Warnking.
Auch wenn der Geschäftsführer Verständnis zeigt für alle, die erst einmal Berührungsängste haben gegenüber Menschen mit Behinderung und er alle Schritte der Inklusion behutsam angeht, hat er neben den großen finanziellen auch kleinere, leicht erfüllbare Wünsche. Dass ältere Behinderte beispielsweise selbstverständlich mit zu einem Seniorennachmittag genommen würden. Oder Ehrenamtliche, die Gehandicapte zum Gottesdienst begleiten.
Wünsche, die der Bereichsleiter ‚Offene Dienste‘ beim Caritasverein Altenoythe, Helmut Strey, ebenfalls kennt. 126 Menschen mit Behinderung, die durch seine Einrichtung ambulant betreut werden. "Ein regelrechter Boom." Für die aber zunächst bezahlbarer Raum zum Wohnen gefunden werden muss. Und das sei bereits seit Jahren ein großes Problem.
Gefunden haben den Wohnraum Julia und Thilo. Zentral in der Stadt gelegen bewohnen die beiden 34-Jährigen jeweils ein kleines Appartement - mitten in Friesoythe. Fußläufig geht’s abends zum Sport oder für Julia in die Frauengruppe. Dann, wenn die Arbeit in der Werkstatt für Menschen mit Behinderung hinter ihnen liegt. Inklusion, wie Strey sie sich vorstellt. Oder das Frühstücksangebot des Caritas-Vereins für 30 Menschen mit und ohne Behinderung. Das gemeinsame Fußballgucken auf SKY: Unkompliziertes Miteinander, das den Experten in der Behindertenhilfe zufrieden macht.
Luft nach oben sehen die Fachleute dagegen im Bereich heilpädagogische Kindergärten in der Stadt Cloppenburg. Bis zu einer halben Stunde Fahrzeit gebe es auf Grund dieses Mangels für manche Kinder, beklagt Referentin Nordlohne. Es fehlten schlicht Integrationsgruppen vor Ort.
Und appelliert gemeinsam mit Caritasdirektor Dr. Tepe an die Offenheit der Mitbürger im Blick auf Menschen mit Behinderung. Zwar sei das Thema Zuwanderung eine immense Herausforderung, doch dürfe die Pflanze ‚Inklusion‘ nicht davon überschattet werden, so dass ihr weiteres Wachstum verhindert würde.
Und nicht zu vergessen: "Jeder Mensch hat etwas zu geben", ist Prälat Kossen zutiefst überzeugt. Auch Menschen mit Einschränkungen. Gerade sie seien ein "Gegengewicht zu unserer auf Leistung und Erfolg fixierten Gesellschaft", gibt Kossen zu bedenken.
* Namen geändert
Dietmar Kattinger, 18.09.2015