Wenn sie das Wort Corona hören: Was fällt Ihnen dann als erstes ein?
Ich verbinde das sofort mit dem Thema ‚Familie‘. Was mir einfällt, ist ‚Chance‘ auf der einen und ‚Risiko‘ auf der anderen Seite.
Was ist die Corona-Chance für Familien?
Wir erleben, dass Familien sehr engagiert sind und Unglaubliches leisten. Sie finden wieder zusammen. Durch den Shut-Down hat eine Entschleunigung stattgefunden. Bei einigen Kindern mit ADHS hat sich die Lage dadurch deutlich entspannt. Die Ruhe in der Familie hat auch zu einer Beruhigung der Symptomatik des jeweiligen Kindes geführt. Andere Paare haben gemerkt, wieviel sie noch verbindet und in dieser Situation neu zusammengefunden.
Und die Corona-Risiken für Familien?
Die jetzige Krise wirkt wie ein Katalysator sowohl in die eine als auch in die andere Richtung. Dort wo Elternpaare sich in brüchigen Beziehungen befinden, wachsen die Konflikte. Da entstehen hochambivalente Phasen, die einer Trennung vorausgehen.
Worunter leiden Ihre Klienten am meisten?
Das ist abhängig von der Altersgruppe. Bei den Jugendlichen verlangt Corona das, was sie an ihrer Lebensphase am allerwenigsten schätzen: Eigentlich geht es um Ablösung, um sehr viel Kontakt mit den Cliquen und Freundeskreisen. Jetzt leben sie in enger Tuchfühlung mit Eltern und Geschwistern.
Das klingt aber nicht sehr nach Leiden…
Doch die Jugendlichen leiden darunter, sie sind genervt und begehren auf. Das kann auch die Eltern und Geschwister sehr herausfordern.
Das ist konflikthaft, aber nicht krisenhaft…
Richtig: Existentiell werden die Fragen: Haben Vater und Mutter eine sichere Arbeitsstelle? Oder: Gibt es Kurzarbeit und ist Papas Firma existentiell in der Krise? Das ist bedrohlich für die Eltern. Das spüren ebenso die Kinder.
Welche Zahl ist größer: Diejenige der Familien, die gut durch die Krise kommen oder die darunter leiden?
Eine schwierige Frage: Es gibt Voraussetzungen, bei denen wir sagen können, jemand mit einem Einfamilienhaus und Garten hat es leichter als eine Familie in einer Zwei-Zimmer-Wohnung. Dann gibt jedoch Dinge, die es trotz Haus und Garten schwierig machen: Wenn ein Elternteil schon vor Corona suchtkrank oder psychisch krank war. Belastungen sind subjektiv und werden unterschiedlich erlebt.
Wer leidet mehr: Erwachsene oder Jugendliche?
Jeder auf seine Weise. Kinder leiden immer, wenn Eltern leiden. Junge Kinder spüren, was bei den Eltern gerade los ist. Sie sehen sich immer in der Verantwortung. Sie verstehen sich als Nabel der Welt und haben schnell das Gefühl, etwas tun zu müssen, um die Situation zu verbessern. Je älter sie werden, desto eher können sie sich distanzieren. Trotzdem betrifft Leid in einer Familie alle gleichermaßen.
Wenn die Situation noch lange so andauern wird, was ist dann ihre größte Sorge?
Die hohe Belastung durch Kinderbetreuung, schulische Aufgaben und existentielle Sorgen sind eine ungute Mischung. Ich befürchte, dass, wenn diese Überforderungssituation ein gewisses Maß überschreitet, dass dann auch ‚Gewalt‘ ein Thema in solchen Familien sein wird, weil das Nervensystem so dünn ist. Das merken wir bereits jetzt: Der Belastungsfaktor kommt langsam in den Grenzbereich.
Mütter haben keine Lust mehr zu kochen. Jugendliche hängen nur noch am Handy: Bis wohin ist Leiden normal? Ab wann sollte jemand in die Beratung kommen?
Leid ist immer ein persönliches Empfinden. Wenn ich das Gefühl habe ‚Ich bin an einer Grenze angekommen und ich kann nicht mehr. Ich halte das so nicht mehr lange durch‘, dann sollte ich mich spätestens melden. Anders gesagt: Wenn die Fragezeichen im Kopf mehr werden, dann sich gerne melden, damit aus Fragezeichen Ausrufezeichen werden.
Die Beschränkungen wurden gelockert. Was raten Sie für die neue Phase?
Das, was für die alte Phase auch schon galt: Es ist immer gut, die Woche zu strukturieren und ebenfalls die einzelnen Tage. Allen Beteiligten soll klar sein: Das hier sind Arbeitszeiten, das sind Freizeiten und das wiederum gemeinsame Zeiten. Jede Mutter, jeder Vater, jedes Kind braucht darüber hinaus Phasen für sich alleine. Im Grunde ist das wie bei einem Stundenplan. Auch das Wochenende muss sich unterscheiden von der Woche. Für viele Familien geht im Moment allerdings eines nahtlos in das andere über.
Also nicht Jogginghose von Montag bis Sonntag?
Nein. Strukturen sollen uns zwar nicht versklaven, aber sie geben Jung und Alt ein Gerüst.
Lock-Down oder Lockerung – was gilt für Ihre Beratungsstellen?
In der Erziehungsberatungsstelle haben wir beispielsweise die ganze Zeit über sehr intensiv telefonisch beraten. In Krisenfällen auch von Angesicht zu Angesicht. Das tun wir weiter. Jederzeit nehmen wir auch Neuanmeldungen an von 9 bis 12 und von 14 bis 17 Uhr. Wer hier anruft, spricht direkt mit einem Berater oder einer Beraterin.
Christine Themann ist verantwortlich für den Bereich ‚Beratung‘ im Caritas-Sozialwerk. Dazu zählen sechs Beratungsstellen für Ehe-, Familien- und Lebensfragen in Brake, Cloppenburg, Delmenhorst, Oldenburg, Vechta und Wilhelmshaven. Gleichzeitig leitet sie die Beratungsstelle für Erwachsene, Jugendliche und Kinder in Vechta
Kontakt:
EFL-Beratungsstellen gibt es in Brake, Cloppenburg, Delmenhorst, Oldenburg, Vechta und Wilhelmshaven. Weitere Infos unter: www.caritas-sozialwerk.de
Beratungsstelle für Eltern, Jugendliche und Kinder, Vechta
Tel. 04441 8707-690 www.caritas-sozialwerk.de